Leiden (dukkha): Hilfe in Krisenzeiten
Die Medien berichten immer wieder von allerlei Krisen in der Wirtschaft, der Umwelt und der Politik, um gemeinsam mit den Fachleuten nach einer Lösung der Probleme zu suchen. Aber auch jeder Einzelne von uns hat im Laufe seines Lebens die unterschiedlichsten Probleme zu lösen. Als buddhistischer Mönch orientiere ich mich in Krisensituationen an den Empfehlungen des Buddhas.
Krisen gehören ebenso wie Glück, Leid und andere Empfindungen zum Leben aller Menschen (also Laien) und auch ordinierter Menschen dazu. Betrachten wir das Leben des Buddha oder Jesus Christus, so sehen wir, dass auch sie schwere Krisen durchgemacht haben. Das ging ausnahmslos allen so, beispielsweise Nelson Mandela, Mahatma Ghandi oder Mutter Theresa und vielen anderen. Alle haben Krisen erlebt, diese überwunden und so ihr eigenes Leben bereichert und vielen Menschen Glück gebracht.
Krisen haben Ursachen, d.h. sie sind aufgrund bestimmter Gegebenheiten entstanden. Diese Ursachen können selbst oder durch äußere Faktoren verursacht sein. Nicht die Krisen sind das Problem, sondern der Umgang mit den Krisen. Viele Menschen, die von Krisen betroffen sind, haben deren Ursachen erkannt, diese als Herausforderung angesehen und die Krisen erfolgreich bewältigt.
Einige Menschen sind jedoch der Meinung, dass Krisen auf ihr schlechtes Karma zurückzuführen und nicht zu ändern wären. Sie haben sich traurig mit dieser Situation abgefunden. Probleme oder Schwierigkeiten sollten uns jedoch – wie ein Weckruf – veranlassen, unsere eigene „eingefahrene“ Lebensweise, die möglicherweise die Ursache der Krise ist, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern. Wir sollten also diesem Stolperstein „Krise“ dankbar sein und ihn nutzen, um achtsamer mit unserem kostbaren Menschenleben umzugehen.
Auch der Buddha hatte in seinem Leben durch andere Menschen verursachte Schwierigkeiten zu bewältigen. Er wurde beispielsweise immer wieder von (neidischen) Mitmenschen verleumdet. So hat sein Schwager Devadatta dreimal vergeblich versucht, ihn zu töten. Ein andermal wurde der Buddha bezichtigt, eine bekannte Prostituierte empfangen, getötet und begraben zu haben. Der Leichnam der Frau wurde in der Nähe des Ortes gefunden, an dem der Buddha seine Lehre (dhamma) verkündete.
Während der Regenzeit, in der die Mönche drei Monate an einem Ort zu bleiben pflegen, hatte der Buddha einst Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden, denn derjenige, der ihn eingeladen hatte, hatte diese Einladung vergessen. Das war für den Buddha eine schwere Zeit. An manchen Tagen hatte er nicht einmal etwas zu essen. Auch von körperlichem Leid blieb der Buddha nicht verschont, denn auch er wurde hin und wieder krank. Auch seine letzte Krankheit, der blutige Durchfall, war sehr schmerzhaft.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass alle Menschen in ihrem Leben heilsame und unheilsame Erfahrungen machen. Der Buddha fasste sie zusammen als „Weltliche Bedingungen“ (Loka-dhamma), die acht Dinge, die in dieser Welt zusammen auftreten, nämlich:
Labha (Gewinn) / Alabha (Verlust)
Yasa (Ruhm) / Ayasa (Misserfolg)
Ninda (Lob) / Pasamsa (Tadel)
Sukha (Vergnügen) / Dukkha (Leiden)
Diese acht Gegebenheiten oder Bedingungen entsprechen den Speichen eines Rades und drehen sich wie ein Rad. Dieses Beispiel demonstriert, dass Krisen normal sind und wir darüber nicht verwundert sein dürften.
Der Buddha lehrte, dass Krisensituationen drei unheilsame Wurzeln (mûla) verursacht werden, nämlich:
Gier/Lobha oder Râga
Hass/Dosa
Verblendung/Moha
Als Gegenmittel empfahl er Geduld, Dankbarkeit, Vergebung und Gleichmut, das besonders bei negativen Erfahrungen zu Erkenntnis und Lösung der Probleme führen kann. Wie kommt es aber nun, dass wir so schnell – und unüberlegt – an Phänomenen oder Situationen haften und sie ablehnen oder für immer besitzen und aufrechterhalten wollen? Wie entstehen diese Verhaltensweisen?
Durch unsere fünf Sinne nehmen wir Eindrücke auf, die wir gedanklich verarbeiten und als „gut“ und/oder „schlecht“ beurteilen. An den „guten“ Phänomen haften wir – lobha, (Gier), die „schlechten“ lehnen wir ab dosa (Wut, Hass). Wenn wir an „gute“ Situationen denken, sehnen wir uns nach ihnen, wenn wir erneut an „schlechte“ Situationen denken, steigert sich unser Hass. Es sind aber nicht die Phänomene an sich, die begehrenswert oder hassenswert sind, sondern unsere subjektive Bewertung macht sie dazu. Was sind aber die Ursachen dafür, dass wir uns unser Leben durch unser eigenes Verhalten so leidvoll machen?
Der Buddha hat in seiner Darlegung der „Vier Edlen Wahrheiten“ (ariya-sacca) nicht nur festgestellt, dass unser Leben leidhaft (dukkha) ist, sondern auch deren Ursachen sowie einen Weg zur Behebung dieser Ursachen (aṭṭhangika-magga) aufgezeigt. Diesen Weg muss jeder von uns Menschen selbst gehen. So ist Verblendung (moha) die verwerflichste der drei Wurzeln, denn sie ist die Grundlage von Gier und Hass (lobha/ dosa). „Verblendung“ (moha) bedeutet hier „Unwissenheit über Ursache und Wirkung“.
Schauen wir uns nochmals die drei unheilsamen Wurzeln an. Wenn wir die Wurzel lobha oder raga als einen Fehler betrachten, dann handelt es sich um einen geringen Fehler (appasavajja). Hass (dosa) ist ein großer Fehler (mahasavajja). Gier (lobha oder raga) ist aber schwerer zu überwinden (dandhaviragi). Dosa ist einfacher zu überwinden (khippaviragi). Betrachten wir beispielsweise eine Person als unseren Feind und dieser hat einen Unfall, so können wir ihm gedanklich alles Gute und baldige Genesung wünschen.
Raga bzw. lobha (Gier) in der Bedeutung von Bedürftigkeit/Verlangen ist sehr schwer zu überwinden, denn ohne Bedürfnisse/Verlangen können wir nicht leben. Ohne Raga gäbe es keine Kinder, keine wissenschaftliche Entwicklung etc. Auch wir selbst hätten dann nicht das Verlangen, die Leidhaftigkeit des Lebens zu erkennen und unsere Einstellung den Phänomenen gegenüber zu verändern. So ist Verlangen an sich nicht unbedingt sehr fehlerhaft, sondern vor allem das Ziel unseres Verlangens. Raga bzw. lobha kann – ähnlich wie ein scharfes Messer – einem „unheilsamen“ Ziel wie das Töten eines Wesens oder einem „heilsamen“ Ziel wie der Operation zur Gesundung eines kranken Wesens dienen. Es ist sehr wichtig, diesem Unterschied Rechnung zu tragen.
Unwissenheit(moha) in der Bedeutung von einem „unzutreffenden/fehlerhaften Verständnis der natürlichen Gegebenheiten“ (mahasavajja) wie beispielsweise die Annahme eines unvergänglichen Glücks oder der Beständigkeit der materiellen und/oder natürlichen Gegebenheiten, ist ebenfalls schwer zu überwinden (dandhaviragi). So wurde der Buddha einst von einer Mutter gerufen, deren Kind gestorben war. Sie forderte den Buddha auf, es wieder zum Leben zu erwecken und fragte verzweifelt: Warum ist gerade mein Kind gestorben? Warum muss gerade ich leiden? Der Buddha bat sie, ihm ein Reiskorn von einer Familie zu bringen, in der noch niemand gestorben wäre. So machte die Frau die Erfahrung, dass Sterben eine natürliche Angelegenheit ist, die alle Wesen betrifft. Allein mit Worten hätte der Buddha sie nicht trösten können.
Die dritte unheilsame Wurzel, nämlich Unwissenheit (moha) als Grundlage des rationalen und emotionalen Verhaltens, kann nur verändert werden, wenn wir uns dessen bewusst werden. Das geschieht jedoch nur selten, solange das eigene Leben glücklich verlaufen zu scheint. Erst in Krisensituationen, wie beispielsweise im oben angeführten Fall, hinterfragen wir das eigene Weltbild. Daher sollten wir Krisen nicht verurteilen und ablehnen, sondern als Möglichkeiten betrachten, eingefahrene Verhaltensmuster zu ändern.
Moha ist dafür verantwortlich, dass wir die eigene Persönlichkeit – das eigene Selbst – als etwas wirklich Vorhandenes und Beständiges ansehen. Bei genauerer achtsamer Betrachtung lässt sich dieses „Selbst“ jedoch nicht lokaliseren und/oder näher bestimmen.
Zur Abhilfe hat der Buddha die Vipassanâ-Praxis empfohlen. Achtsamkeit hilft uns, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, und wie wir mit Hilfe der fünf Khandas (Daseinsgruppen) in Gedanken viele Welten entstehen lassen, die wir für dauerhafte Wirklichkeiten halten. Die Natur der Phänomene ist jedoch immerwährende Veränderung. Achtsamkeit, die Vipassanâ-Praxis, hilft uns zu realisieren, dass es kein festes ICH gibt.
Einige Lehrreden, nämlich das Girimananda Sutta1 oder das Bojjhanga Sutta, berichten, wie Mönche Krankheiten überwunden haben und wieder gesund geworden sind. Im Girimananda Sutta werden die zehn in der Vipassanâ-Meditation zu betrachtenden Objekte einzeln aufgeführt:
der Unbestädigkeit ( aniccâ saììa)
der Unpersönlichkeit (anattâ saììa)
der Unreinheit/Widerlichkeit (asubha saììa)
des Elends (âdinâva saììa)
des Aufgebens/Verzichts (pahana saììa)
der Leidenschaftslosigkeit (viraga saììa)
der Erlöschung (nirodhâ saììa)
der Abneigung gegen alle Welten (sabba loke anabhirata saììa)
der Vergänglichkeit alles Gestalteten (sabba sankharesu aniccâ saììa)
der Ein- und Ausatmung (ânâpâna sati)
Girimananda hat Unterweisungen über diese zu betrachtenden Objekte erhalten und darüber meditiert. So ist er wieder genesen. Wir können uns folgende Fragen stellen: Was ist mein Körper? Was ist Wirklichkeit? Woraus besteht der Körper? Was sind Aggregate, Khandha, Elemente? Alles, was bedingt entstanden ist – auch das Glück! -, muss auch wieder vergehen. Da unser Körper bedingt entstanden ist, ist er vergänglich. Wir müssen uns also keine Sorgen über die unabänderliche Tatsache machen.
Und wie sieht es nun mit unserer Persönlichkeit – unserem ICH – aus? Auch sie ist bedingt entstanden: durch die Zeugung unserer Eltern, die uns als Kind und Heranwach-sende/n versorgt haben, sowie durch das Umfeld, das unsere Identität geprägt hat. Bei genauerer Betrachtung lässt sich nur – ähnlich wie bei der Ein- und Ausatmung – ein ständiger Prozess des Entstehens und Vergehens feststellen, aber kein unveränderliches bleibendes Wesen. Wir könnten uns auch fragen, ob wir wirklich (noch) die gleiche Person sind, wie auf Fotos aus der Kinheit. Die Belehrungen des Buddhas helfen uns bei der persönlichen Erfahrung dieser Wahrheit, die sich allein durch Konzepte nicht lösen lässt.
Auch wenn die Wirklichkeit ein ständiger Prozess des Entstehens und Vergehens ist, bedeutet das nicht, dass uns gleichgültig ist, was in der Welt passiert. Wie anfangs gesagt, können wir auch unser Umfeld beim Überwinden von Krisen helfen und unterstützen. Dabei sollten wir jedoch unbedingt auf unsere persönliche Leistungsfähigkeit achten. Wenn wir beispielsweise nicht schwimmen können, können wir auch keinen Ertrinkenden aus dem tiefen Wasser ziehen. Ebenso wenig können wir als einzelne Person nicht allen Menschen helfen. Wir können jedoch gegenüber Personen in Krisensituationen positive Gedanken entwickeln und aufrechterhalten.
Der Buddha gab konkrete Anweisungen zur Entwicklung der vier Meditationsobjekte (bhâvanâ), nämlich: die Entfaltung liebender Güte (mettâ), Mitleid (karuòâ), Mitfreude (muditâ) und Gleichmut (upekkhâ). Das Fundament der Buddhalehre ist Mitgefühl und Weisheit (paììâ). „Gleichmut“ bedeutet also nicht, das soziale Umfeld auszublenden undbei offenkundigen Vergehen nicht im Rahmen der eigenen Möglichkeiten einzugreifen.
Weisheit (paììâ) hilft uns insbesondere, die Befleckungen (kilesa), nämlich die „den Geist trübenden Leidenschaften“, zu überwinden und die absolute Wahrheit (paramattha sacca) zu erkennen, das heißt, zu erkennen und zu erfahren, „dass das Dasein ein bloßer Prozess von beständig wechselnden körperlichen und geistigen Phänomenen“ ist. Mitgefühl fördert Freundlichkeit, Mitfreude und das Vermögen, sich mit anderen Wesen auszutauschen und ihnen im Rahmen der eigenen Fähigkeiten einfühlsam zu helfen.
Vielleicht wird die Krise von äußeren Umständen ausgelöst. Es kommt jedoch darauf an, ob wir diese widrigen Umstände als Krise empfinden. Wir können eine Krise stets überwinden, indem wir uns zunächst beruhigen, das heißt, den Geist ausbalancieren, mit innerem Abstand die Situation möglichst unvoreingenommen betrachten und … loslassen.
1 https://www-dhammatalks-org.translate.goog/books/ChantingGuide/Section0032.h
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